Mehr als sieben Monate nach dem Friedensschluss im November 2022 befindet sich die äthiopische Provinz Tigray weiter in einer enormen humanitären Krise - und zwar unbemerkt von der Weltöffentlichkeit. "Unsere Projektpartner vor Ort sind verzweifelt. Sie berichten uns, dass die aktuell vorherrschende Situation in der Provinz Tigray offenbar viel schlimmer ist als die große Hungersnot in Äthiopien 1984/85. Damals wurde die internationale Gemeinschaft aufgerüttelt, alle zeigten sich solidarisch. Jetzt, wo die Not noch schlimmer ist, interessiere es allerdings niemanden", so Reinhard Heiserer, Geschäftsführer von Jugend Eine Welt, am Freitag im Interview mit Kathpress über die Erfahrungen der Helfer vor Ort.
Zwei Jahre dauerte der Bürgerkrieg der äthiopischen Armee gegen die Tigray-Befreiungsfront, mit einer verheerenden Opferbilanz von über einer halben Million Toten und zwei Millionen Binnenvertriebenen. Nach wie vor ist das Überleben von mehr als 90 Prozent der insgesamt sechs Millionen Einwohner auf humanitäre Hilfe angewiesen. Ein großer Teil der Infrastruktur in der nördlichsten Provinz des Vielvölkerstaates Äthiopiens ist zerstört, und die Sicherheitslage bleibt prekär. Zumindest aber gilt laut Heiserers Informationen, dass die Kämpfe vorbei sind, alle Beteiligten Frieden wollen, es wieder Elektrizität und ein funktionierendes Banksystem gibt. Auch Flüge wurden wieder aufgenommen, womit Journalisten sowie internationale Helfer nach der längeren völligen Isolation des Tigray wieder in die Region kommen können.
Letzteres passiert jedoch viel zu wenig: Die weltweite Hilfe und Aufmerksamkeit bleiben dem Tigray nach dem fürchterlichen Genozid an seiner Bevölkerung meist verwehrt. Geopolitische Interessen seien ebenso schuld daran wie auch interne Konflikte, so die Einschätzung der "Jugend Eine Welt"-Projektpartner. So haben das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) und die US-Entwicklungsbehörde USAid ihre Hilfen an Äthiopien im Mai ausgesetzt, da es Berichte koordinierten Diebstahls der Lieferungen durch das Militär gab - wodurch die unbedingt benötigte Unterstützung nicht die Bedürftigen erreichte.
Kinder am meisten bedroht
Rasche Nahrungshilfe für den Tigray hat weiterhin absolute Dringlichkeit. "Viele sind an Hunger gestorben und sterben weiterhin, allen voran geflüchtete stillende Mütter und kleine Kinder. Auch wenn sie überleben, bleiben sie durch die Unterernährung in ihrer Gehirnentwicklung und damit in der Lebensqualität geschädigt", erfuhr der "Jugend Eine Welt"-Geschäftsführer von Projektpartnern. Nur ganz langsam laufe die Landwirtschaft an, seien doch im Krieg alle Nutztiere, wie etwa die fürs Pflügen nötigen Ochsen, von den Militärs beschlagnahmt oder gestohlen worden. Dazu kämen die medizinische Misere und das Fehlen von Medikamenten, das etwa für chronische Kranke wie Blutdruck- oder HIV-Patienten sowie für viele der im Krieg verwundeten und verstümmelten Soldaten oft das Todesurteil bedeutet.
Akuten Handlungsbedarf gibt es auch bei der Bildung. 1,3 Millionen Kinder und Jugendliche haben im Tigray drei Schuljahre verloren. "Zuerst fiel der Unterricht wegen Covid aus, dann wegen des Krieges, zudem sind auch die meisten Arbeitsstätten zerstört. Wenn junge Menschen weder lernen noch arbeiten können, kompensieren sie dies oft durch Alkohol und Drogen", warnte Heiserer. Die Rückholung in die Klassen ist laut den Projektpartnern von "Jugend Eine Welt" herausfordernd, seien doch 86 Prozent der Schulen im Krieg systematisch zerstört worden; in den anderen lebten zumeist Flüchtlinge. Besonders in den Dörfern fehle es angesichts der derzeitigen Regenzeit schlichtweg an Gebäuden für den Unterricht. Viele Jugendliche erwogen daher auch die Emigration, in die arabischen Länder oder nach Europa.
Tiefste Wunden oft unsichtbar
Nicht auf den ersten Blick sichtbar, jedoch besonders entsetzlich sind laut Heiserer die Traumata, die der Krieg in den Köpfen der Bevölkerung hinterlassen hat. Deren Heilung müsse sofort beginnen, seien doch schätzungsweise 200.000 Frauen aus dem Tigray während des Krieges von Soldaten, oft in Gruppen, vergewaltigt worden. Einschätzungen der "Jugend Eine Welt"-Projektpartnern vor Ort zufolge werde die Versöhnung "mehrere Generationen lang" dauern, wobei am Anfang die Vergebung im Kleinen stehen müsse. Es brauche Suche nach Gerechtigkeit und Befriedigung der zum Überleben nötigen Bedürfnisse, sowie auch die aktive Mitwirkung des Bildungssektors und der Religionen.
Vieles an "Heilungsarbeit" geschehe schon bisher in den Gottesdiensten und im Schulunterricht, berichtete Heiserer. Dennoch hätten auch die Kirchen Äthiopiens - insbesondere die orthodoxe - einen langen Versöhnungsprozess vor sich: Im Krieg seien nicht nur ihre Gebäude zerstört, sondern auch mehr als 1.000 Priester und Diakone getötet worden. Das lange "Schweigen" zum Krieg seitens der zur Staatsführung loyalen orthodoxen Kirche habe laut den Informationen vor Ort eine Spaltung und Separationsbestrebungen einer eigenen tigrayanischen Kirche ausgelöst. Auf katholischer Seite ist indes die Sorge groß um 16 Kirchen im Tigray, die in den Kämpfen von eritreischen Truppen beschlagnahmt wurden und weiter besetzt sind.
Als einen "kleinen Hoffnungsschimmer" für die Region bezeichnete Heiserer die im Mai erfolgte erneute Öffnung der Schulen im Tigray nach der langen Corona- und kriegsbedingten Pause, darunter auch die von "Jugend Eine Welt" unterstützten Schulen. Hier gebe es nicht nur Unterricht, sondern auch die Verteilung von Lebensmitteln an Notleidende, zudem organisieren die Projektpartner monatlich Hilfstransporte, logistisch unterstützt von der UNO. Auch aus Österreich gibt es Förderung für diese Programme, durch "Jugend Eine Welt" und die Don Bosco Mission Austria.
Drohende nächste Krise
Laut Heiserer drängt die Hilfe auch deshalb, da die nächste Krise in der Region bereits begonnen hat: Mit dem im April ausgebrochenen Krieg im Sudan kommen Flüchtlinge nun nach Äthiopien - oftmals als Rückkehrer jener rund 75.000 Vertriebenen, die das Land erst kürzlich wegen des Tigray-Konflikts in Richtung Sudan verlassen hatten. Eine Wiederbesiedelung in deren Heimat ist laut Heiserers Informationen meist unmöglich, da die Dörfer und Häuser inzwischen besetzt seien. Andere Optionen am Horn von Afrika gebe es für sie schlichtweg nicht: Auch in den Nachbarländern Somalia, Südsudan, Ägypten und Eritrea herrsche derzeit "Chaos", so Heiserer. "Die ganze Region am Horn von Afrika durchlebt gerade eine schlimme Zeit - und braucht die Hilfe der Welt."
Jugend Eine Welt-Spendenkonto: AT66 3600 0000 0002 4000 | Onlinespenden unter www.jugendeinewelt.at/spenden | Spenden sind steuerlich absetzbar!
Quelle: Kathpress
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